Leseprobe
Kapitel Eins: Der Killjoy
Chancengleichheit ist eine Errungenschaft der modernen Gesellschaft. Während in früheren Zeiten nur Herkunft und Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stand darüber entschieden, wie weit man es im Leben bringen konnte, stehen dem Menschen heute alle Möglichkeiten offen.
Für gute Demokraten ist Chancengleichheit eine Selbstverständlichkeit. Wenn sie kritisiert wird, dann nur, weil sie in der Realität noch nicht zu hundert Prozent durchgesetzt ist. Kinder aus niederen sozialen Schichten haben nach wie vor schlechte Chancen, eine höhere Schule zu besuchen. In Führungspositionen gibt es weniger Frauen als Männer. Solche Verhältnisse werden als Missstände angesehen, die es zu ändern gelte, um möglichst weitgehende Chancengleichheit herzustellen. Denn dass Chancengleichheit eine gute Sache sei, darüber sind sich alle einig.
Wirklich? Schon lange gehört es zum guten Ton, die sogenannte "Leistungsgesellschaft" zu kritisieren. In letzter Zeit steigert sich diese Kritik zu wahrem Wehgeschrei. Die Rede ist von der Ökonomisierung aller Lebensbereiche, von der Deformierung unserer Bildungssysteme zu Trainingscamps und ganz allgemein von der Verwandlung des Menschen in eine Kreuzung aus Leistungsroboter und Konsumautomat.
Das sind billige Phrasen. Wer sie in Talkshows äußert, erntet sicher Applaus. Eine Frage wird von den leidenschaftlichen Kritikern der Leistungsgesellschaft allerdings nie gestellt:
Wenn es nicht der Stand sein soll, der über das Fortkommen im Leben entscheidet, auch nicht Rasse, Klasse oder Kaste, nicht Geschlecht, Beziehungen, Religion oder das Los – was denn dann?
Die Antwort: Leistung.
"Dein Erfolg" beruht deshalb auf zwei Grundsätzen. Der erste lautet:
"Du bist nicht besser als die Zeit, in der du lebst."
Mit anderen Worten: Arbeite mit den Bedingungen, anstatt dich darüber zu erheben.
Daraus folgt der zweite Grundsatz: "Niemand außer dir entscheidet, also tu es." – Aber dazu später.
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Fassen wir zusammen: Die moderne Gesellschaft gewährt relative Chancengleichheit, was allgemein als großer Fortschritt gesehen wird. In logischer Konsequenz wird damit persönliche Leistung zum wichtigsten Kriterium für die Eröffnung von Erfolgs- und Lebenschancen. Leistung wiederum muss gemessen und verglichen werden, und daraus ergeben sich die vielen Verfahren zur Benotung, Beobachtung und Bewertung, die Rankings und Ratings, von denen wir alle heute umgeben sind. Das allerdings schmeckt den Gutmenschen nicht, die sonst bei jeder Gelegenheit Demokratie und Chancengleicheit für alle fordern.
Den Schinken essen und das Schwein behalten wollen: Mit diesem rustikalen Sprichwort ist die Schizophrenie beschrieben, in der die moderne Gesellschaft gefangen ist. Einerseits ist unsere Welt als offenes Rennen gestaltet, bei dem jeder im Moment der Geburt auf seine Startposition gesetzt wird. Andererseits hat sich eine Mentalität breit gemacht, die für jedes Versagen eine Rechtfertigung, eine Ausrede sucht. Dieser Widerspruch hat einen Typus hervorgebracht, der es sich – unterstützt und bestärkt durch eine vermeintlich kritische Medienöffentlichkeit – in seinem Scheitern bequem gemacht hat. Ich nenne ihn "Killjoy".
Killjoys verderben anderen den Spaß, den sie selbst nicht haben. Ein Killjoy sucht die Gründe für sein Versagen grundsätzlich bei anderen, vornehmlich in der Gesellschaft. Zu diesem Zweck erstellt der Killjoy aufwändige Analysen, welche ihm den Ruf eintragen, "intellektuell" zu sein. So kann er sich etwas auf seine argumentative Brillanz einbilden, während er komplizierte Ableitungen bemüht, um seine eigenen Defizite "dem System" anzulasten. Häufig firmieren Killjoys als Philosophen, Schriftsteller oder Feuilletonjournalisten. Sie scheuen alles, was anstrengend ist, zum Beispiel ehrliche Arbeit, Sport oder gesunde Ernährung. Statt an sich selbst zu arbeiten, überziehen sie Menschen, die sich anstrengen, um sich selbst und ihr Leben zu verbessern, mit Verachtung.
Ein Killjoy, der seinen Job nicht hinkriegt, verteufelt die Leistungsgesellschaft und schimpft auf die "Gier" erfolgreicher Manager. Ist er alkohol- oder zigarettenabhängig, wirft er allen anderen Gesundheitswahn vor. Leidet er an Potenzproblemen, spricht er gern von der sexualisierten Gesellschaft, und als armer Schlucker beklagt er die Ökonomisierung aller Lebensbereiche.
Die Killjoy-Mentalität hat große Teile der intellektuellen Elite unseres Landes erfasst, also jene Leute, die in Zeitungen den Ton angeben, das Internet mit ihren eitlen Blogs füllen und im Fernsehen selbstgefällige Dauergäste der Talkshows sind. Sie halten sich selbst für politisch engagiert und würden sich vermutlich als "links" bezeichnen. Wobei "links" heutzutage nicht mehr bedeutet, dass man sich organisiert, um für die wirklich Schwachen und Benachteiligten einen größeren Teil vom Kuchen zu erkämpfen. "Links" bedeutet, dass man auf den Kuchen spuckt, nachdem man sich heimlich schon satt gefressen hat. Das ist das Wesen der modernen Kapitalismuskritik.
Dem Phänomen wohnt eine gewisse Logik inne. Viele Akademiker haben jahrelang studiert und verdienen dann trotzdem weniger als ein guter Heizungsinstallateur. Sie gondeln mit dem Fahrrad zur Uni und treffen unterwegs ehemalige Studenten, die nach dem dritten Semester abgebrochen haben und jetzt in einem dicken Audi sitzen, weil sie mit einer netten Geschäftsidee Millionen scheffeln. Dabei hatten die Akademiker den Studenten noch vor Kurzem erzählt, dass sie in der Gosse landen würden, wenn sie sich weigerten, eine ordentliche Hausarbeit über Goethe zu schreiben. Wer ein Spiel verliert, findet das Spiel eben doof.
Es sind größtenteils Killjoys, die die Medien beherrschen und damit bestimmen, wie die Gesellschaft über sich selbst nachdenkt und sich selbst sieht. Weil Killjoys ihre mageren persönlichen Zukunftschancen mit der Zukunft der Welt verwechseln, ist das Abendland aus ihrer Sicht ständig vom Untergang bedroht. Der Islamismus wird unsere Kultur unterwandern. Die Klimakatastrophe wird den Planeten verwüsten. Die Rentensysteme werden zusammenbrechen. Die Demokratie ist am Ende, der Überwachungsstaat steht vor der Tür. Kein Wunder, dass es in einer solchen Welt mit dem persönlichen Fortkommen nicht weit her ist.
Das ist der Geist der Killjoys: Immer sind es die anderen, sind es widrige Umstände, gesellschaftliche Fehlentwicklungen oder fremde Mächte, die Glück und Erfolg im Weg stehen. Als normaler Medienkonsument ist man dieser schwarzmalerischen Gehirnwäsche von morgens bis abends ausgesetzt. So wie den Christen in früheren Zeiten mit Hölle und Fegefeuer gedroht wurde, wenn sie versuchen sollten, aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit auszubrechen, so versucht man uns heute mit Katastrophenszenarien einzuschüchtern. Das Ergebnis ist dasselbe. Warum sollte man in einer Welt, die vom Zusammenbruch bedroht ist, überhaupt noch etwas wollen? Wofür soll man sich anstrengen, wenn jede Anstrengung nur einen weiteren Schritt Richtung Abgrund darstellt? Sollte jemand versehentlich doch Erfolg haben, so muss er sich dafür schämen, weil er Wohlstand und Glück doch nur auf dem Rücken der anderen erringt.
Unsere Gesellschaft ertrinkt in einer Kultur aus Selbstanklage, Opferverherrlichung und Schuldkomplexen. Das ist der Nektar, an dem sich die Erfolglosen berauschen. Ihr Motto ist einfach: Sitz still und schimpfe auf alle, die laufen. Definiere die Erfolgreichen als asoziale Egomanen und dein eigenes Scheitern als kritische Absage an die kapitalistische Leistungsgesellschaft. Sei für Chancengleichheit, aber gegen die Pflicht, sich anzustrengen. Und halte dich unter allen Umständen für etwas Besseres, denn schließlich hast du die Mechanismen des Bösen durchschaut.
Soweit die Bestandsaufnahme. Nun folgt die Bewertung: Wir haben es mit einem Optimalzustand zu tun. Optimal für alle, die tatsächlich etwas erreichen wollen. Je mehr Killjoys, desto weniger Konkurrenz. Nie war es einfacher als heute, Erfolg zu haben. Im Grunde genügt es, kein Killjoy zu sein.
Das Gegenteil eines Killjoys nenne ich "Mover". Während die Killjoys den ganzen Tag schwadronieren, also talken, chatten, bloggen, mailen, simsen und twittern, handelt der Mover und schweigt.
Ein Mover ist ein Mensch, der etwas bewegt. Zuallererst sich selbst.
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